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Social Entrepreneurship in Ostdeutschland: Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern

Dienstag, 04. Februar 2020

Der dritte Teil unserer Recherche-Reihe: Die Motivation wächst, unsere Gesellschaft nachhaltig mitzugestalten und neue (Lösungs-)Wege für globale als auch lokale Herausforderungen zu entwickeln. In Deutschland entscheiden sich immer mehr Menschen für die Gründung eines Sozialunternehmens. Doch ist dieses Phänomen deutschlandweit zu beobachten? Oder anders gefragt: Wie viel Social Entrepreneurship steckt in Ostdeutschland?

Angelina Probst von Social Impact begab sich auf Spurensuche in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern, um einen Einblick in die Entwicklungen, Potenziale und Herausforderungen von regionalen Sozialgründungen zu erhalten.

Wie stark ist die Social-Entrepreneurship-Szene in Sachsen-Anhalt ausgeprägt?

Norman Klüber vom Fraunhofer-Institut für Mikrostruktur von Werkstoffen und Systemen IMWS für das Kompetenzzentrum Soziale Innovation Sachsen-Anhalt berichtet von seinen Erfahrungen: „Aus unserer Sicht ist Social Entrepreneurship in Sachsen-Anhalt weitestgehend unbekannt. Wir haben einige wenige Akteure, die in dem Bereich unterwegs sind, sich aber vielleicht selbst gar nicht als „Social Entrepreneur“ verstehen. Bei Verwaltung, Gründungsberatung, Banken usw. müssen wir immer sehr weit ausholen, um das Phänomen zu erklären und als Zielgruppe überhaupt erst sichtbar zu machen.“

Welche Herausforderungen aber auch Unterstützungen gibt es?

"In Sachsen-Anhalt bekommen wir seitens der Politik oder Investitionsbank bereits erste Unterstützung. Es gibt jedoch noch nicht viele Politiker*innen, die sich das Thema Social Entrepreneurship direkt auf die Fahne geschrieben haben. Unter den Jungen ist eine große Offenheit da, auch zunehmend unter älteren Menschen. Es braucht aber weiterhin eine starke Einbindung von Anfang an. Es ist wichtig, dass mehr Menschen dafür sensibilisiert werden und nicht nur darüber gesprochen wird, sondern auch die Akteure mit Politik, Zivilgesellschaft und Verwaltung aktiv zusammengebracht werden. Es ist wichtig, Unterstützungsbedarfe aufzudecken und Strategien für mehr Förderung von Social Entrepreneurship zu entwickeln. Zum Beispiel gibt es Kompetenzzentren dieser Art nicht überall, was zeigt, dass erkannt wurde, wie wichtig das Thema für unserBundesland ist. Eben um ein gutes Beispiel über unsere Grenzen hinaus zu sein.", berichtetMandy Stobbe vom Kompetenzzentrum für Soziale Innovationen.

Das Kompetenzzentrum für Soziale Innovationen Sachsen-Anhalt hat es sich zur Aufgabe gesetzt, die Vernetzung all dieser Akteure zu fördern und bereits 2019 drei Veranstaltungen mit jeweils 40-60 Teilnehmer*innen (u.a. auch aus Politik, Verwaltung, Hochschulen, etc.) durchgeführt, um das Thema und die Zielgruppe kontinuierlich sichtbar zu machen. Zudem können sich Gründungswillige dort im Bereich soziale Innovationen vor Ort oder im Rahmen der Aktionswochen informieren, austauschen und vernetzen.

„Wir stehen in Sachsen-Anhalt vor der Herausforderung, dass auf der einen Seite ein sehr hoher Bedarf an neuen, nachhaltigen Lösungsansätzen für komplexe gesellschaftliche Probleme vor allem im ländlichen Raum besteht. Andererseits ist das Prinzip Social Entrepreneurship kaum bekannt. Die Szene in den beiden einzigen Großstädten Halle und Magdeburg ist relativ klein. Es existieren zu wenige zielgruppengerechte Unterstützungsstrukturen und landesweite Förderstrukturen, die auf Besonderheiten des Social Entrepreneurships eingehen.“, erklärt Norman Klüber.

In welchen Bereichen machen sich Social Entrepreneure regional stark?

Laut Norman Kübel beschäftigt sich ein wesentlicher Teil zu etwa einem Drittel mit der Nutzung und Reaktivierung leerstehender Häuser, um diese in Orte der Begegnung, des kulturellen Austausches oder gemeinschaftlichen Lebens, vor allem im ländlichen Raum, zu verwandeln. Zwei Initiativen in Sachsen-Anhalt widmen sich z.B. in Form von gegründeten Dorfläden den immer größer werdenden Herausforderungen der Daseinsvorsorge im ländlichen Raum: der Dorfladen Deersheim eG und der Dorfladen des Heimatvereins Hainrode e.V. Außerdem gebe es in Sachsen-Anhalt aktuell neun Akteure, die sich den Themen Gesundheit und Familie, innovative und ganzheitliche Bildung sowie Arbeitsmarktintegration von Benachteiligten verschrieben haben und dies auch mit einem Geschäftsmodell verknüpfen. Beispielsweise haben sich Curalingua UG, neben ihrer unternehmerischen Aktivität, auch einer sozialen Mission verschrieben. Im Bereich nachhaltige Produktion und Handel sind sechs innovative Unternehmen aktiv, wie zum Beispiel die Energiegenossenschaft Helionat eG Magdeburg, drei Läden in Halle und Magdeburg, welche regionale, unverpackte oder vor dem Müll gerettete Produkte anbieten und zwei Unternehmen, die ökologische und werthaltige Kinderkleidung vermieten (Räubersachen GmbH Halle und Relenda GmbH Magdeburg).

Mandy Stobbe stellt ebenso eine Bewegung und Entwicklung im ländlichen Raum fest, da die Menschen vor Ort gut vernetzt sind und verstärkt zusammenarbeiten. Außerdem hebt sie noch u.a. den Bahnhof 17 in Güsen, die Kulturhanse mit dem Gründungslabor als gute regionale Beispiele hervor. Sie betont, dass es wichtig ist, auch über das Bundesland hinaus zusammenzuarbeiten, wie u.a. mit dem Plattform e.V. aus Thüringen, wo sich ebenfalls die Akteure mit Social Entrepreneurship beschäftigen. "Gerade da Sachsen-Anhalt nur zwei größere Städte hat, wie Magdeburg und Halle, und viel durch den ländlichen Raum geprägt ist, ist eine Zusammenarbeit und der Zusammenhalt umso wichtiger.", erzählt sie und ergänzt: "Es ist schon zu beobachten, dass Menschen, die im Bereich Sozialunternehmertum tätig sind oder sich dahin entwickeln, tendenziell sehr offene Menschen sind und entsprechend eine Zusammenarbeit untereinander als wertvoll empfinden."

TIPP: Eine Übersicht mit Akteuren in Sachsen-Anhalt findet ihr hier im Aufbau und schon bald soll es auch einen Bereich für Social Entrepreneurship geben.

Welches Potenzial birgt Sachsen-Anhalt im Bereich des sozialen Unternehmertums?

Es ist zu beobachten, dass in Sachsen-Anhalt eine (noch) kleine Gruppe an Akteuren sich für mehr Strukturen, Wege und Vernetzungen innerhalb der Social-Entrepreneurship-Szene einsetzt. Es ist aus den Gesprächen wahrzunehmen, dass es auch Unterschiede gibt in dem Verständnis und der Herangehensweise von Sozialunternehmer*innen. Die besondere Art des Unternehmertums wird in größeren Städten, wo Social Entrepreneurship bereits etablierter ist, eher aus unternehmerischer Perspektive betrachtet oder das Businessmodell dahinter bedacht. Was trotzdem natürlich nicht den Kernfokus ausmacht. In Sachsen-Anhalt entsteht es mehr im Ehrenamt und als Herzensprojekt nebenbei. In der Regel entwickeln sich diese erst aus dem langjährigen Engagement der Menschen vor Ort, Vereinsstrukturen für die Organisation werden genutzt und sind nur bedingt unternehmerisch aktiv. Aber gerade darin kann ein großes Potenzial für die Etablierung von Gründerökosystemen liegen.

Und gibt es soziales Unternehmertum in Mecklenburg-Vorpommern?

Der Nordosten wird vermutlich nicht direkt mit dem „Place-to-be“ für Gründer*innen assoziiert. Bei genauerem Betrachten entdeckt man in Mecklenburg-Vorpommern Projekte, Initiativen und Gründer*innen, die aktiv einen gesellschaftlichen und nachhaltigen Beitrag leisten. Dabei handelt es sich nicht nur um den städtischen Raum und die Universitätsstädte, sondern vor allem auch um den ländlichen Raum.

Ein Beispiel für sozial und nachhaltig orientiertes Unternehmertum bietet die Höfegemeinschaft Pommern, die sich in den letzten Jahren von einem Rittergut zum Startup-Dorf entwickelt hat. In Rothenklempenow wurde dabei etwas geschafft, was als Leuchtturm der Region wahrgenommen wird. Aus der Motivation heraus ein Netzwerk für nachhaltige Entwicklung zu gründen, entstand 2014 daraus das Projekt N. Durch unterschiedliche Ansätze, Konzepte und Lösungen wird dabei vor allem im Bereich der Ernährungsbranche die Transformation zum nachhaltigen Wirtschaften vorangebracht. Dabei werden an einem Ort Netzwerke aus transdisziplinären Bereichen zusammengeführt, wie etwa dem Kultur- und Kreativsektor, als wichtiger Motor für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Zudem arbeitet das Team dort aktuell an dem Programm ResidenZ, um mit Blick auf zunehmende Impulse gesamtgesellschaftlicher Veränderungen drei Stipendiaten eine Möglichkeit zu schaffen, neue Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftsformen systematisch und wissenschaftlich zu erforschen. Der Standort Rothenklempenow zeigt, dass solche Entwicklungen und sozialunternehmerisches Denken auch außerhalb von Großstädten möglich ist und bietet einen Vorteil: die Infrastruktur für die Umsetzung in die Praxis. Daher gilt es seit wenigen Jahren als Geheimtipp - vor allem unter den Food-Startups. Beispiele sind u.a. das Bio-Unternehmen Lunch Vegaz und Tlaxcalli.

Was unterscheidet Mecklenburg-Vorpommern von den großen Hotspots für Gründer*innen?

Im MV-Magazin für kreative und innovative Startups beschreibt Hanna Bachmann die für sie außergewöhnliche Gründerszene: „Die wenigsten von uns haben ‚weich‘ gegründet. In Berlin, Hamburg, Leipzig oder München da gehe ich in so ein Hub und lass‘ mir alles erzählen über Förderung und was ein Pitch Deck oder Venture capital ist oder wie ich einen richtig guten Businessplan schreibe. Und vernetze mich auch gleich mit einem Dutzend anderer Startups.“ In Mecklenburg-Vorpommern sind Startups nicht so umsorgt in „Watte gepackt“. Diese ganze ‚Startup-Industrie‘ haben wir hier nicht. Hier bei uns wird bei Null angefangen und man macht sein Unternehmen ganz allein groß.“

Wie viel Social Entrepreneurship steckt nun in Ostdeutschland?

Auch wenn Social Entrepreneurship in Ostdeutschland (noch) nicht so häufig als dieses benannt wird, so lassen sich doch inspirierende, regionale Beispiele finden. Während man in den Großstädten ein*e Gründer*in unter vielen ist und gleichzeitig vielleicht mehr Unterstützungsangebote zu finden glaubt, so bringt dies auch spannende Vorteile für das soziale Unternehmertum in Ostdeutschland. Die Notwendigkeit als auch der Wille für das Zusammenarbeiten und Vernetzen sind ausgeprägter. Willensstärke, Geduld und langfristiges Denken sind dabei unerlässlich und prägen den Charakter von Gründer*innen vor Ort.

Zur Stärkung endogener Potentiale in strukturschwachen Regionen arbeiten wir zum Beispiel im Social Impact Lab Beelitz-Heilstätten an und mit Erkenntnissen, Erfahrungen und Netzwerken zu Sozialunternehmertum im ländlichen Raum. Denn es braucht eine Stärkung regionaler Potenziale und eine Vernetzung innovativer Akteure, um ländliche Räume langfristig als attraktive Standorte zu fördern.

Wir haben Respekt vor allen Akteuren, die Social Entrepreneurship dort leben und oftmals dafür (noch) unbekannt sind. Es wird noch Zeit brauchen, bis die Art der Herangehensweise an gesellschaftliche Herausforderungen gängig sein wird.

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Wir sind Social Impact.

Wir haben die Vision einer gerechten und zukunftsfähigen Gesellschaft von morgen. Deshalb entwickeln wir Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen wie Klimawandel, Fragen der Migration und Integration, Rechtspopulismus oder Stadt-Land-Gefälle. Unser Blog gibt euch Einblicke in unsere Arbeit, in die Erfolge unserer (Social) Startups und hinter die Kulissen. Er zeigt, was uns wichtig ist. Wirft Fragen auf. Gibt Antworten. Unterhält. Und inspiriert. Viel Spaß beim Lesen!